Die lebendige Seele eines schwedischen Sees zeigt sich am Besten im Herzen der Einsamkeit, wo die Wälder dicht bis an die felsigen Ufer stehen . Viele dieser Seen sind voller Geschichten, wenn man bereit ist, hinzuhören. Denn in den tiefen Wassern lebt mehr als nur Kühle und Spiegelung – dort ist die uralte Kraft der nordischen Wassergötter allgegenwärtig: Ägir, Ran und ihre neun Töchter – die Wellen.

Ägir und Ran – Herrscher des Wassers
In der nordischen Mythologie ist Ägir der Gott des Meeres, ein Riese (Jotun), aber freundlich gegenüber den Göttern. Er richtet Gastmähler aus, bei denen das Bier nie versiegt – seine Halle glänzt aus purem Gold. Doch seine Gemahlin Rán ist von anderer Natur. Sie ist düster, wild, mit einem Netz in der Hand – bereit, die Schiffbrüchigen in die Tiefe zu ziehen. Sie steht für die bedrohliche Seite des Wassers, für das Verschlingen, das Unergründliche.
Gemeinsam sind sie die Eltern von neun Töchtern, die als personifizierte Wellen über das Meer – und auch die Seen – tanzen. Jede ist Ausdruck einer bestimmten Bewegung des Wassers. In den Gedichten der Edda werden sie als die Schwestern bezeichnet, die gemeinsam tanzen, stürmen und flüstern. Sie werden in mehreren altisländischen Quellen erwähnt, insbesondere in der Skáldskaparmál der Snorra-Edda.
1. Himinglæva – „die durch den Himmel Leuchtende“ oder „die durchscheinende“
2. Dúfa – „die Schwankende“
3. Blóðughadda – „die mit blutrotem Haar“ oder „die Bluthaarige“
4. Hefring – „die Aufsteigende“
5. Uðr (Unnr) – „die Wogende“
6. Hrönn – „die Brandungswelle“
7. Bylgja – „die Welle“
8. Dröfn – „die Gischtige“
9. Kólga – „die Kalte“
Die Neun Wellentöchter (Ægir und Ráns dætur) stehen jeweils für unterschiedliche Zustände und Bewegungen, von ruhigem Schimmer bis zu stürmischer Gewalt. Zugleich gelten sie auch als Sinnbilder weiblicher Urkraft und unkontrollierbarer Naturgewalt.
Die Natur trägt noch heute die Seele dieser Mythen. Der Respekt vor Wasser, ja vor seinen Gaben und seiner Zerstörungskraft, ist tief verwurzelt. Wenn man wie wir mit einem Ruderboot hinausfährt, schweigt man oft. Nicht nur wegen der Stille, sondern aus Ehrfurcht. Vielleicht auch, weil man Rán nicht auf sich aufmerksam machen möchte.
Stell dir vor, du stehst an einem klaren, ruhigen See. Die Morgensonne trifft die Oberfläche und die Wellen kräuseln sich sacht. Die ersten Namen steigen in dir auf: Himinglæva, die durchsichtige – sie ist hier, ganz klar, ganz sanft. Später, wenn ein Sturm über das Land zieht, sieht man Blóðughadda am Werk: rot wie das Abendlicht auf aufgewühltem Wasser. Dúfa, die schwankende, zeigt sich, wenn der Wind unentschlossen ist und das Wasser hin und her wirft. In jedem Wellenschlag spricht eine Tochter.


