Gungnirs Blót-Wanderung

Gewöhnlich ist er ein fremder alter Wanderer. Wenn er hier in Midgard unterwegs ist, erscheint er oft als alter Mann mit langem grauem Bart. Er trägt einen breitkrempigen, tief ins Gesicht gezogenen Hut und einen weiten Reisemantel. Der „Graubart“, der „Wanderer“ sind nur die beliebtesten seiner Erscheinungen. Er ist ein Meister der Verwandlung, wie sein häufiger Beiname Grimr besagt. Und sicherlich hat er seine Freude daran, sich unters Menschenvolk zu mischen und den einen oder anderen zu täuschen. Aber das fehlende Auge ist sein gleichbleibendes Merkmal und kein Teil seiner Verwandlung. Mehr schlecht als recht vermag er es unter seinem Hut zu verbergen. Und wenn man sein Gesicht flüchtig zu sehen bekommt, dann weiß man mit wem man spricht.

Was hat es nun auf sich mit diesem geheimnisvollen Männerbund? In diesem Atemzug muss ich vorweg nehmen, dass es sich überhaupt nicht um etwas Geheimes oder Verschworenes handelt. Abseits der gemeinsamen Feste mit Kinderlärm, Spielen und Hornrunden am Feuer ist der Gedanke entstanden, sich in einigen wenigen Momenten im Jahr nicht nur der Waldeinsamkeit zu widmen, sondern hier auch Gesprächsthemen in den Mittelpunkt zu stellen, die den Fokus auf Odin in all seinen Aspekten richten. Und Odin ist unumstritten in seinem Habitus eine männliche Erscheinung, in der Initiation, Mysterium,  Selbstüberwindung, Kraft, Loslassen, Festhalten, Klarheit, Entschlossenheit, Zielrichtung,  Kampf (auch im Sinne von Erfolg, beruflichen Zielen, Wohlstand und Sicherheit für die Familie) eine erhebliche Rolle spielen. Also in dem Spektrum, in dem wir als Mann im Leben wirksam werden und ins Geschehen treten, wo Durchsetzungsvermögen, Ausdauer und Aushalten von Widrigkeiten gefragt sind. Aus dieser Themenlage entstehen neue Ideen, die sich dann oft auch bewusst oder unbewusst auf die Ritualisitik des Blóts auswirken.

In der Praxis stehen vor uns Wanderungen von 10 bis 15 Km (oder auch mehr), für die wir uns bewusst die Auszeit eines ganzen Tages nehmen. Während dieser Wanderung führen wir nicht nur ein Blót aus, sondern mehrere. In der ersten Phase so eines Tages tauschen wir uns über alltägliche Themen, Sorgen, Ideen aus und streifen damit Schritt für Schritt das Profane von uns ab. Bis all das besprochen und ausgesprochen ist, was uns wie ein Alb die Schultern schwer macht. Denn dann kommen wir zur Einkehr und zum Hauptblót.

Daniel und ich (Ingmar) haben im Mai 2020 zum Sigrblót damit begonnen und führen dieses Format fort. Jeder Mann aus unserem Kreis, der ein gutes heidnisches Thema oder eine Idee einbringt und bereit ist, seinen Geist zu öffnen ist eingeladen. Und natürlich führen wir solcherart Blót-Wanderungen auch gemeinsam mit Frauen und Familie durch, das ist selbstverständlich. Doch der Geist dieser Wanderung wird ein anderer sein, vielleicht milder, vielleicht weniger auf Odin gerichtet. Wir wissen es nicht, wir lassen uns leiten!

Doch in Zeiten der Beliebigkeit, des Kulturwandels täuschen weiche Umgangsformen nur über die Härten der Realität hinweg – und weil wir dies wissen, ist ein Männerbund auch ein  Zeichen. Übrigens lässt sich so eine Blót-Wanderung auch als Initiation oder Jugendleite verwenden. Wenn ein Jugendlicher  im Kreis der Männer zum Beispiel einen Tag und eine Nacht (oder länger) und freier Natur verbringt und Aufgaben bestehen muss, wäre das vom Standpunkt der Alten Sitte aus gesehen eine würdige Erfahrung an der Schwelle zur Mannwerdung.

Den Speer als Grundstein haben wir hiermit gelegt.

Sigrblót im Mai 2020

Blauer Himmel, dunkler Wald am Horizont. So lässt sich die Mecklenburger Waldeinsamkeit in wenigen Worten zusammenfassen. 

Im Kontrast zwischen eilenden Wolken und Erde schlängelt sich ein Feldweg durch die weiten Felder, welche so prägend sind für diese Landschaft. Schritt für Schritt kommt der Wald näher und dies sind im Grunde die ersten Momente, aus der eigenen Welt herauszutreten. Mit Alltagsflucht hat das nichts zu tun, das ist wichtig zu verstehen. Bestenfalls ließe es sich wahrscheinlich mit der Fokussierung auf den Zustand beschreiben, den man bei längeren Wanderungen erreicht; das Abstreifen unnötiger Gedanken. Und wenn man sich ganz auf ein Blót einlassen will, dann braucht man Ungestörtheit. Hier gleichen wir mehr und mehr dem Wanderer, der unsichtbar neben uns, oder auch vor uns läuft. Und ihm ist das Blót gewidmet… bzw. die vielen, die in den verschiedenen Abschnitten der Wanderung eingebettet sind.

 

Die Wanderung ist eine tagesfüllende Aufgabe. Wobei „Aufgabe“ sehr nach Arbeit oder Anstrengung klingt. Darum geht es natürlich nicht. Zwischendurch haben Daniel und ich an schönen Plätzen im Wald immer wieder mal pausiert, Brot und Käse gegessen. In den späten Nachmittagsstunden waren wir dann zurück und die zurückgelegte Strecke merkt man schon in den Beinen, aber nicht im Sinne einer körperlichen Verausgabung. Das ist auch nicht Sinn der Sache. Ich fühle mich nach solchen Waldgängen geklärt, sortiert und vor allem inspiriert. Den Abend lassen wir mit unserem Haupt-Blót, dem Sigrblót, ausklingen. 

Winterblót Anfang 2021

Anfang des Jahres setzten Daniel und ich unsere Wanderstiefel auf den winterkalten Grund  des Sachsenwaldes in der Nähe von Aumühle bei Hamburg.  Erste Anlaufstelle sind auf dieser Ecke die mächtigen Steinformationen aus der uralten Megalithzeit. Die steinernen Zeugen unter Moos und Farn reichen derart weit zurück, dass sie über die normalerweise vorhandene Rückbindung an germanische Elemente (Horn, Runen und verschiedene andere Ritualgegenstände) kaum fassbare Anknüpfungspunkte in die Vorzeit geben. 

Nachdem wir danach ganze Heerscharen an Großstadtpilgern, die es wochenends zu Erholungszwecken gen Aumühle treibt, hinter uns ließen, kamen wir den wilderen und verlassenen Bereichen des Waldes näher. Daniel zeigte mir eine wunderschöne Stelle, die in einer leichten Vertiefung lag – vollständig in Moos gehüllt.

Hier lauschte ich den Edda-Versen, die Daniel in die kalte Winterluft rezitierte – und ich folgte dem Blót, bis ein kurzer Moment der Stille doch tatsächlich vom Ruf eines Rabens durchbrochen wurde. Solche Stimmungen prägen sich ein. Auf dem Rückweg mussten wir dann steten Schrittes bleiben, weil die Dämmerung früh einkehrte und es schnell dunkel wurde. So trafen wir zum Beispiel noch auf der Hälfte des Weges ein Ehepaar, das sich ebenfalls die Wanderschuhe umgeschnallt hatte und sich ganz und gar zur Navigation auf’s Handy verließ. Als uns die verunsicherte Frau sicherheitshalber nach dem Weg fragte, wurde schnell klar, dass sie vollkommen falsch gingen. Sie hatten den entgegengesetzten Weg direkt in den dunkelwerdenden und inzwischen menschenleeren Wald eingeschlagen. In der Dunkelheit wären sie auf sich gestellt. Das eh schon beinah nutzlose Handy wäre dann wahrscheinlich leer gewesen.  Solche Ereignisse führen unmittelbar vor Augen, dass sich die Natur in unserer hochtechnisierten und modernen Welt, in der sich fast alles sicher wähnt, nicht planen lässt; noch weniger der plötzliche Zugriff der Götter. Tage-, wochen- und monatelang ist man der abstumpfenden Profanität des Alltags ausgeliefert, und wer nun glaubt, dass göttliches Walten & Wirken nicht existent sei in der modernen Welt, der stößt unvermittelt im nächsten Moment auf eine Sequenz in seinem Leben, wo ein Wimpernschlag darüber entscheidet, ob es weitergeht oder an diesem Punkt endet.